Wiener Aktionismus/WAM

Als pubertäre Gymnasiasten hatten wir Anfang der 1970er ein Faible für Woodstock, viele von uns lasen eifrig im „kleinen roten Schülerbuch“, das wir sorgfältig vor den Eltern versteckten, gab es darin doch Passagen über Drogen, sexuelle Freiheit und Selbstbefriedigung, weigerten uns, im Unterricht „Clockwork Orange“ durchzunehmen, weil u.E.  zu sehr gewaltverherrlichend, „geil“ fanden wir hingegen das Tap und Tastkino von Valie Export, mit dem sie zunächst in Wien ahnungslose Passanten schockierte und die u.a. von Brus und Mühl initiierten „Uni-Ferkeleien“. Kaum einer von uns machte sich aber damals wirklich tiefgehende Gedanken über den Hintergrund dieser Aktionen.

Die 68er und ihre Kunst
Erst viel später habe ich realisiert, dass dies einfach Teile des österreichischen (eigentlich Wiener) Weges der weltweiten linken „68er-Bewegung“ waren, bei dem die junge Generation Kritik an der Konsumgesellschaft übte und versuchte, die muffigen, autokratischen und provinziellen Strukturen aufzubrechen und - speziell für Österreich geltend - die Ignoranz der Eltern-Generation gegenüber der gesellschaftlichen Verdrängung der Verbrechen des Nationalsozialismus zu thematisieren. Einige Vertreter dieser jungen Generation wählten dazu den Weg der Kunst – die zentralen Figuren waren dabei Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler (Valie Export war nie Teil dieser Kerngruppe, stand mit ihr jedoch in regem Kontakt). Alle Vier kamen eigentlich von der Malerei bzw. bildenden Kunst und begannen zunächst, das traditionelle Medium „Tafelbild“ aufzubrechen (bis hin zur Zerstörung des Mediums selbst) und drastisch zu erweitern, nämlich tabulos auf den menschlichen Körper selbst, seine Interaktion mit verschiedenen Gegenständen und Substanzen, bis hin zu Stoffwechselendprodukten mit der Intention, den gesamten Schaffensprozess (die „Aktion“) fotografisch oder filmisch  zu konservieren und als Gesamtkunstwerk zu etablieren, was vor allem dann für das von Nitsch entwickelte Orgien Mysterien Theater galt. Das waren im Zeitkontext natürlich unglaubliche Provokationen und ein Tabubruch mit dem Ziel, einen Gesellschaftswandel zu unterstützen, der es u.a. auch möglich machen sollte, die „Abgründe“ der menschlichen Seele, die bislang schamhaft versteckten Triebe wie Sadismus, Aggression, Perversion etc. offen ausleben zu dürfen.  Die öffentliche Empörung über die Aktionen war riesig, sie wurden oft – soweit öffentlich - von der Polizei beendet (Erregung öffentlichen Ärgernisses) und von den Medien ausgeschlachtet – mit irreführenden Kommentaren und Interpretationen – aber die breite Bevölkerung war sensibilisiert und begann zu diskutieren (Freiheit der Kunst versus Konservativismus und „guter Geschmack“).
Die vier Hauptvertreter dieses Wiener Aktionismus entwickelten sich danach in sehr unterschiedliche Richtungen (Anmerkung: Schwarzkogler starb schon Ende der 60er), nach ihrer gemeinsamen Kernzeit gab es keine weiteren Proponenten, die die Aktionen weitergeführt hätten – allerdings wurden Elemente daraus in anderem Kontext verwendet – quasi als Teil einer Performance-Kunst.
Inwiefern der Wiener Aktionismus die weitere Entwicklung in Österreich in Richtung Öffnung, persönliche Freiheit, aber auch Chancengleichheit, und auch was die Abkehr vom bisherigen Frauenbild betrifft, beeinflusst hat, lässt sich nicht wirklich beurteilen. Fest steht, dass mit der sozialistischen Alleinregierung ab 1970 eine diesbezügliche Aufbruchsstimmung Platz gegriffen hat (Fristenlösung, neues Eherecht, erleichterter Bildungszugang/Schulbuchaktion).

Spät, aber doch
Erst 2024 (zwei Jahre nach dem Ableben des letzten Protagonisten Nitsch) wurde das WAM (Wiener Aktionismus Museum) gegründet, es geht auf eine Privatinitiative von mehreren Sammlern zurück, die das Ziel verfolgt, dem Wiener Aktionismus an seiner Wirkungsstätte die notwendige und verdiente Aufmerksamkeit zu geben. Es beherbergt die weltweit größte Sammlung der Hauptvertreter und sucht den Dialog nicht nur mit den Besuchern, sondern auch mit der aktuellen Kunstszene.
Mitte Februar startete die neue Ausstellung „VIER AKTIONEN“ (bis Ende Juli 2025), in der je eine „Aktion“ der „Vier“ aus den 60er Jahren mit Hilfe von Fotos, daraus entwickelter Collagen, Konzepttexten, Filmen und Zeitungsausschnitten minutiös dargestellt wird; die Aufbereitung ist fast wissenschaftlich und der Besucher bekommt Einblick in die damaligen Vorgänge, kann sich in dieser Zusammenschau ein ziemlich vollständiges Bild über den Gesamtprozess machen und versuchen, sich vorzustellen, wie das zur damaligen Zeit gewirkt haben muss – in einer Zeit, in der Sendungen wie „Familie Leitner“ oder „Guten Abend am Samstag“ (mit Heinz Conrads) die mit Abstand beliebtesten im Samstag-Vorabend-Programm des ORF waren.
Diese Ausstellung ist der Start des heurigen Veranstaltungsprogrammes mit dem Schwerpunkt „Körperpolitik“, es soll in weiterer Folge auch ausloten, wie die zeitgenössischen Künstler aktuell mit diesem Thema umgehen.
Interesse geweckt? Dann auf in die Weihburggasse!

Essay by Walter Ritter

 

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wieneraktionismus.at

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